Kurz vor dem Umzug besuchte ich unter der Woche eine Freundin in Köln, und eigentlich erwartungsgemäß wurde der Abend länger als geplant. Mit viel Mühe und Not erreichte ich noch den letzten Zug, und über einige Umwege kam ich schließlich nicht lange vor dem Sonnenaufgang am Bahnhof an. Auf dem Nachhauseweg, kurz, bevor ich in die letzte Straße einbiegen wollte, rief jemand, „Hey du, kannste mir mal kurz helfen?“

Ich schaute mich um, und konnte den Rufenden zuerst nicht ausmachen. Schließlich sah ich ihn – in einem Rollstuhl sitzend in der Einfahrt eines eingezäunten Parkplatzes. Er winkte mich zu sich hin, während er mir entgegen rollte. Um den Arm trug er einen Verband, seine Mütze verdeckte größtenteils Verletzungen am Kopf.

„Das ist aber nett, dass du mir hilfst!“ sagte er in einem Berlinerisch. „Ist ja schon was spät, und ich glaub‘, ich hab‘ mich mit der Zeit vertan, und selbstverständlich ist das ja auch nicht um die Uhrzeit, dass du dir Zeit nimmst.“ Er erzählte mir, dass er bei einem Kumpel gewesen sei, und jetzt aber wirklich mal nach Hause wolle. Seinem Freund gegenüber versicherte er, dass er das alleine schaffen würde, aber nun wüsste er gerade dann doch nicht weiter, und seinen Freund wollte er nicht wecken. „Sonst macht der sich wieder so Sorgen!“

Ich fragte ihn, wie ich ihm denn helfen könne. „Na, keine Sorge, schieben musste mich nicht! Ich würd‘ nur gerne wissen, ob du weißt, wann hier der nächste Bus fährt.“ Ich ging kurz vor zur Haltestelle, schaute nach, kehrte zurück, und sagte ihm, „Leider erst in etwas über einer Stunde. Die letzten Busse sind schon vor ein paar Stunden gefahren, und der NachtExpress fährt nur am Wochenende.“ „Was, echt?“ Überlegend schaute er mich an, und entgegnete schnell, „Kannste für mich ’n Taxi rufen?“

So gefragt rief ich beim örtlichen Taxi–Verbund an, und bestellte eines, dass tauglich für Rollstuhlfahrer:innen sein müsste. Freundlich unterbrach mich der Berliner, und erwähnte, dass es reicht, wenn man den Rollstuhl verstauen könne – wenn man ihm helfen würde, könnte er sich auch hinsetzen. In der Taxi–Zentrale schien das mit einem erleichterten Seufzer zur Kenntnis genommen worden zu sein. „Ich warte gerne solange mit, bis das Taxi da ist“, bot ich an, was er sichtlich erfreut annahm.

Erst sagte er mir, dass er sich freuen würde, dass ich ihm helfe, aber ihm das auch irgendwie klar war: „Weißte, dein Hemd. Solche haben sie früher in Berlin in den Metzgereien getragen. Erinnerte mich daran.“ Er erzählte mir ein wenig aus seiner Jugend, und auch mit einem Lächeln, warum er umgezogen sei („Wenn die hier in den Osten kommen, will ich mal sehen, warum’s im Westen so schlecht ist!“).

Dann erzählte er mir, warum er überhaupt im Rollstuhl sitzen würde: „Vor ein paar Wochen, unten am Alten Markt, vor der Bank, da belästigten so’n paar Typen eine Frau. Bin da natürlich sofort zwischen. Zwei konnte ich in die Flucht schlagen. Was ich nicht sehen konnte, war der hinter mir – der mir dann ’n Messer von hinten in den Rücken stach.“ Mitfühlend verzog ich mein Gesicht, worauf hin er erwähnte, dass er Glück hatte, und nichts wichtiges verletzt worden sei, nur der Arm wohl noch ein paar Wochen lahm bleiben würde. „Hab’s nicht bereut“, sagte er, „und würd’s wieder machen“, als ich ihn auf seine Zivilcourage ansprach. „Obwohl’s nächsten Tag in der Zeitung stand“, was ihm wohl unangenehm war.

„Aber das ist gar nicht der Grund, warum ich gerade im Rollstuhl sitze!“ sagte er dann. „Nach der Physio stand ich auf Krücken am Straßenrand und wollte mir ein Taxi rufen. Als es um die Ecke bog, ging ich auf die andere Straßenseite, als plötzlich ein Auto kam und mich platt fuhr. Der Taxi–Fahrer hat sich sofort um mich gekümmert, und als ich wach war, sagte der, ‚der ist abgehauen!’“ Ich schaute ihn kurz fassungslos an. „Wenn’s nicht so weh tun würde, könnte ich drüber lachen“, sagte er schließlich. Und lachte dann doch kurz. „Nicht, weil’s so komisch ist, aber da denkste dir, Karma funktioniert anders.“

Bald darauf kam auch das Taxi, und wir verabschiedeten uns voneinander. Wir stellten uns mit Vornamen vor, und er bedankte sich noch mal bei mir. „Weißte, man trifft sich ja immer zweimal, und dann gebe ich dir ein Bier aus“, sagte er mir. Ich freue mich darauf – auch wenn ich dann darauf bestehen werde, es ihm auszugeben.

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